8 Rezepte für erfolgreichen Fernunterricht
Schule in der Coronakrise
Das Ausmaß an derzeitigen Schulschließungen ist historisch einzigartig. Die Maßnahme ist zwar gut geeignet, um die Ausbreitung des COVID-19-Virus einzudämmen, gleichzeitig ist es jedoch eine enorme Herausforderung für das deutsche Bildungswesen. Im folgenden Artikel werde ich erläutern, wie Schulen diese Herausforderung meistern können.
Die Antworten auf diese Herausforderung im deutschen Bildungsföderalismus sind vielfältig, vielfach wird jedoch auf traditionelle Lehr- und Lernmethoden zurückgegriffen. Schüler*innen werden mit Büchern und großen Paketen von Arbeitsblättern überschüttet. Damit kommen wir unserem Bildungsauftrag jedoch nicht nach und lassen die Schüler*innen im Regen stehen.
Neue Herausforderungen
Ich unterrichte seit 2016 an der German International School of Silicon Valley (GISSV). Hier habe ich gelernt, wie unsere Schüler*innen in der Zukunft arbeiten werden und wie wir digitale Medien zielgerichtet einsetzen können, um die Kompetenzen zu vermitteln, die unsere Schüler*innen benötigen. In Deutschland gibt es zahlreiche einflussreiche Lehrkräfte (wie z.B. Ines Bieler, Björn Nölte, Jöran, Jan Vedder oder Bob Blume), die einerseits den Mut, Bildung neu zu denken und andererseits innovative Ideen haben, um unser Bildungssystem auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Die meisten findet man auf Twitter im #twitterlehrerzimmer. Die aktuelle Krise kann als Chance genutzt werden, dieses Wissen in die Breite zu tragen und unsere Schüler*innen nicht alleine zu lassen.
Lehren aus China und Asien
In China und in vielen asiatischen Ländern sind zahlreiche Schulen bereits seit Wochen geschlossen. Von diesen Erfahrungen, die in Blogs und Podcasts veröffentlicht sind, können wir zum Wohl unserer Schüler*innen profitieren. Die Kolleg*innen berichten, dass die Schüler*innen nach anfänglicher Euphorie schnell die soziale Interaktion vermissen, sich einsam fühlen und von den zahlreichen Arbeitsaufträgen überfordert sind. Es hat sich gezeigt, dass die traditionellen Lehrpläne und Lehrmittel nicht funktionieren. Daraus und aus meiner Erfahrung an der GISSV leite ich im Folgenden Rezepte ab, von denen wir auch an deutschen Schulen im Inland lernen können.
8 Rezepte für erfolgreichen Fernunterricht
- Die Schüler*innen benötigen in der aktuellen Situation Mitgefühl und Unterstützung, denn dies ist eine belastende Situation für sie und ihre Familien. Sie haben keinen Kontakt mehr zu ihren Peers und die Lehrer*innen können den Raum nicht mehr “lesen”, um sie individuell zu unterstützen. Deswegen sollten die vorliegenden Lehrpläne für die Zeit der Schulschließung entschlackt werden und die Lehrer*innen zentrale Kompetenzen für die nächste Leistungsüberprüfung identifizieren.
- Drill mit geschlossenen Aufgaben auf hunderten von Arbeitsblättern ist dafür ungeeignet. Um die Schüler zu motivieren, bietet sich projekt-, produkt- und problemorientiertes sowie forschend-entdeckendes Lernen an. Den Schüler*innen sollte die Möglichkeit gegeben werden, selbstbestimmt eigene Themen und mögliche Produkte (z.B. ein Podcast oder einen Buchtrailer etc.) auszuwählen. Die Schüler*innnen entwickeln eigene Lösungen zu bedeutungsvollen Problemen, tauschen sich zu diesen mit Mitschüler*innen aus und stellen die weiterentwickelten Lösungen und Produkte der ganzen Klasse vor. Sie arbeiten in Lernteams zusammen und unterstützen sich gegenseitig.
- Dazu benötigen sie detaillierte Arbeitsaufträge (Scaffolding), und die Lehrkraft sollte in einer Telefon- oder Videokonferenz den Arbeitsauftrag erläutern (z.B. mit Zoom). Sie sollten offen formuliert werden. Es eignen sich besonders herausfordernde Fragen, für die es keine einfachen Antworten im Internet gibt. Zudem sollte die Fragestellung den Schüler*innen ermöglichen auf kreativem Wege zu zeigen, dass sie die Lerninhalte verinnerlicht und durchdrungen haben (mastery learning).
- Die Ergebnisse der Projekte sollten vorgestellt und diskutiert werden. Die eigentlichen Adressaten sind die Peers, das Augenmerk sollte auf das Peer-Feedback und die Diskussion gelegt werden. Für die Schüler*innen ist der Austausch sehr wichtig, um nicht zu vereinsamen. Dies kann mit Videokonferenzen und in Chats (“threaded discussion”) geschehen.
- Bei der Leistungsüberprüfung muss umgedacht werden; weg von summativer Lernkontrolle, hin zu formativem Feedback, das den Schülern bei ihren Projekten hilft, beispielsweise mithilfe eines ePortfolios, in dem die Arbeitsprozesse und -ergebnisse dokumentiert werden.
- Die Schüler*innen müssen das Gefühl haben, dass ihre Lehrer*innen in der jeweiligen Stunde gegenwärtig sind, es sollte weiter nach einem vorgegebenen Stundenplan unterrichtet werden. Dies kann dadurch erreicht werden, dass die Stunde gemeinsam mit einer Telefon- oder Videokonferenz begonnen wird. In vielen Apps ist es möglich, in Echtzeit zu verfolgen, an was die Schüler*innen arbeiten und ihnen Unterstützung anzubieten (z.B. mit Google Docs).
- Das Arbeiten an Tablets, Laptops und Handies kann auf die Dauer ermüdend sein. Die Schüler*innen sollten achtsam arbeiten, sich immer wieder Pausen gönnen, wenn sie sich angespannt fühlen, und besonders jüngere Schüler*innen sollten auch praktisch tätig sein, z.B. im Fach Kunst mit Material, das sie im Haushalt finden. Außerdem sollten nicht ausschließlich digitale Medien genutzt werden — für intensives Lesen eignen sich weiterhin Schulbücher und gedruckte Lektüren.
- Auch für die Lehrkräfte ist die aktuelle Situation eine große Herausforderung. Sie sollten sich gegenseitig unterstützen, gemeinsam in Fachschaften oder Jahrgangsteams mit jeweils einem/einer IT-versierten Kolleg*en/in arbeiten. Zudem ist es wichtig zu kommunizieren, dass sie nicht ständig für die Schüler*innen verfügbar sind.
Im Silicon Valley sind wir gut gewappnet
Im Silicon Valley ist es kein Problem, die aus der Praxis gewonnen Einsichten schnell umzusetzen. Die Kolleg*innen an unserer Schule scheuen sich nicht vor neuen Herausforderungen und haben innerhalb eines Tages die nächste Woche vorbereitet und eine Leitlinie für “Distance Learning” erarbeitet.
Der Unterricht wir über eine eigene Lernplattform organisiert, die schon vor einigen Jahren vom ehemaligen Schulleiter Martin Fugmann und Stellvertretenden Schulleiter Sebastian Geus sowie Jenny Jungeblut entwickelt wurde. Die weiterentwickelte Platform NERDL wird nun auch in anderen Schulen, wie dem ESG Gütersloh und der deutschen Auslandsschule in Shanghai und Tokyo eingesetzt. Die Lehrer*innen tragen im Stundenplan die Arbeitsaufträge ein und die Schüler*innen können auf der Plattform ihre Ergebnisse teilen und diskutieren. So bleibt die Taktung des Schultages bestehen. Schüler*innen und Lehrer*innen stehen zahlreiche Apps zur Verfügung, da alle Schüler*innen ab Klasse vier sowie alle Lehrkräfte mit iPads oder Laptops ausgestattet sind.
Besondere Herausforderungen in Deutschland
In Deutschland gibt es zahlreiche Hürden, um die in der Praxis bewährten Ansätze umzusetzen. Die Plattformen Google Suite und Office 365, die von vielen Unternehmen und internationalen Schulen gewinnbringend eingesetzt werden, können in Deutschland nicht verwendet werden. Der notwendige Gesinnungswandel in der Bildungspolitik lässt auf sich warten, und an vielen Schulen haben die Schüler*innen noch keine eigenen Geräte.
Hier im Silicon Valley habe ich eines gelernt: neue Herausforderungen als Chance anzunehmen, etwas Neues zu probieren, auch wenn ich noch kein “Experte” bin, und von den Fehlern zu lernen. Diese Haltung (“growth mindset”) ist in der aktuellen Situation sehr hilfreich. Wenn wir als Experten für Bildung die aktuelle Herausforderung annehmen und Neues wagen, dann kann das Lernen auf Distanz gelingen. Dafür benötigen wir mutige Pädagog*innen und Schulen, die bereit sind, ihre Komfortzone zu verlassen. Wir brauchen Schulämter und Kultusministerien, die flexibel und mutig genug sind, neue Lösungen zu finden. Fast alle Schüler*innen haben ein Smartphone — allein damit lässt sich schon sehr Vieles von dem umsetzen, was ich zuvor beschrieben habe. Zudem gibt es zahlreiche Lernprogramme, die aufgrund der Corona-Krise kostenlos angeboten werden.
So kann es uns gelingen, die Schüler*innen nicht im Regen stehen zu lassen, sondern ihnen zu helfen, an der Herausforderung zu wachsen und neue Kompetenzen zu entwickeln, die ihnen in der Zukunft helfen werden, Situationen wie diese zu meistern.